Noch n‘ Umleiter -oder: Vom Wiederaufstieg einer Hauptbahn

Neben dem Umleitungsverkehr Göttingen – Kassel bzw. Hannover – Altenbeken – Kassel im Sommer dieses Jahres gab es im Herbst eine weitere ICE-Umleitung. Dies ist zwar in Kassel nicht aufgefallen, war aber von ihrer Länge und der damit verbundenen Fahrplangestaltung wesentlich aufwendiger und daher interessanter. Anlass war die Modernisierung der Strecke Hamburg – Berlin zwischen Büchen und Berlin-Spandau, in deren Folge auch der Nahverkehr abschnittsweise eingestellt werden musste.
Die ICEs wurden, wie auch schon in der Vergangenheit, umgeleitet über Uelzen – Salzwedel - Stendal, d.h. über die alte Auswandererlinie Berlin – Bremen – Bremerhaven, die auch noch heute unter den Namen „Amerikalinie“ geführt wird. Diese Strecke ist in Zusammenhang mit der Bahnstrecke Berlin – Hannover (Köln) bis 1873 gebaut worden. Ihre ehemalige Bedeutung ist noch heute am Gleisplan des Bahnhofs Uelzen zu erkennen: die Amerikalinie wird mit einer Unterführung unter der Nord-Süd-Strecke hindurch kreuzungsfrei auf die Westseite des Bahnhofs Uelzen geführt und verlässt diesen ebenso kreuzungsfrei mit einer Westkurve in Richtung Soltau/Bremen. Auch ist sie auf weite Strecken hin absolut gerade ausgeführt und war durchgehend zweigleisig ausgebaut. Bis heute ist die Strecke bis Salzwedel eingleisig. Allerdings sind die neuen Brücken für einen zweigleisigen Betrieb vorbereitet. Auch ist es im Gegensatz zu früher möglich, von der Amerikalinie direkt auf die Strecke Hannover – Hamburg, d.h. in den Ostteil des Bf. Uelzen, zu fahren. Im Zuge der deutschen Teilung wurde auf westdeutscher Seite das zweite Gleis zuletzt im Abschnitt Uelzen – Wieren (wo die Strecke nach Wittingen - Gifhorn abzweigt) wenige Jahre vor den Wende zurück gebaut; auf der DDR-Seite war dies schon früher erfolgt. Die Errichtung der Zonengrenze bzw. der Staatsgrenze West – je nach Sicht des Betrachters – führte zu einer Unterbrechung der Strecke. Der westdeutsche Abschnitt Wieren – Schnega – Nienbergen verlor zunehmend an Bedeutung und schließlich auch den Personenverkehr. Inwieweit bis zu Grenzöffnung noch Güterverkehr bestand, entzieht sich der Kenntnis des Verfassers.
Zu dieser Strecke hat der Verfasser eine besondere Beziehung: eine Sonderfahrt mit einer „Fuffzicher“, vermutlich des Bw Uelzen, hat ihm im März 1973 zum ersten Mal auf diese Strecke gebracht. U.a. im Bahnhof Nienbergen waren an diesem Sonnabend zwei Güterwagen abzuholen, so dass 050 550-7 fast als LZ zum Bahnhof Schnega gefahren wäre – fast, wenn nicht die drei Sonderwagen für den FdE Hamburg dran gewesen wären. Bahnhof Schnega deswegen, weil dies der letzte Bahnhof vor dem Eisernen Vorhang war, in dem ein Umsetzen möglich war. In Nienbergen soll es nur noch einen Prellbock, dahinter eine Brücke, ein kurzes Stück Damm, die „Dumme“ und gleich dahinter den Ostblock gegeben haben. Bis dorthin ist die Lok als LZ gefahren, hat die Güterwagen geholt und ist dann zurück nach Schnega gekommen. Daher dürfte es verständlich sein, dass sich der Verfasser anlässlich des diesjährigen herbstlichen Umleiterverkehrs wieder in diese Gegend begeben hat. Das bedeutete: 4:15 Uhr aufstehen und ordentlich frühstücken, spätestens 5:29 Uhr in der Straßenbahn sitzen, im Bahnhof Wilhelmshöhe wenige Minuten warten, bis der ICE Richtung Uelzen bereit gestellt wird, ab 6:23 Uhr mit diesem planmäßig durchs Leinetal – ja, wirklich mit Halten in Northeim, Kreiensen etc. - bis Uelzen fahren, dort Verpflegung fassen, um 9:05 Uhr den Schienenersatzverkehrsomnibus (ein großer Sechachser) als einziger Fahrgast besteigen und 45 Minuten später in Schnega anzukommen. SEV deswegen, weil der nach Salzwedel verkehrende Regionalexpress wegen seines langen Laufweges aus zeitlichen Gründen zwischen Uelzen und Schnega nicht hält.

Bei der tagfüllenden Wanderung entstand dann u.a. das folgende Bild einer 412-Garnitur (Zug 9015) als ICE/RE 709 Hamburg - München bei der Durchfahrt durch den ehemaligen Haltepunkt Varbitz:


Vor fast 50 Jahren sah das dort aber so aus:


Vierzehn Tage später hat der Verfasser diese Anreise leicht abgewandelt noch einmal gemacht; lediglich die Busfahrt (mit der gleichen Anzahl von Fahrgästen – einem) dauerte diesmal anderthalb Stunden, weil es bis Salzwedel ging. Dort entstand dann dieses Foto vom ausgelasteten Bahnhof der Hansestadt Salzwedel – von links nach rechts: Regionalexpress Magdeburg – Salzwedel – Magdeburg, 401er mit ICE 1604 Hamburg - München, ein 415-Garnitur als ICE 1604 Nürnberg - Hamburg und im Rücken des Fotografen ein auf Durchfahrt wartender Güterzug:

Wie man sieht: die Hauptbahn ist jetzt wieder richtige Hauptbahn mit intensivem Fernverkehr, jedenfalls war sie bis zum 11. Dezember dieses Jahres.
Die Rückfahrt erfolgte diesmal mit dem Regionalexpress – weißer ET mit roter Bauchbinde -, mit Sitzplatzreservierung und einer Fahrzeit von nur 30 Minuten nach Uelzen und von dort, wie vierzehn Tage zuvor, weiter mit einem ziemlich leeren und in Kassel endenden ICE Baureihe 411.

Ullrich Huckfeldt; 12. Dezember 2021

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